Christian Rätsch
Seit Jahren durchstreife ich die Welt auf der Suche nach Pflanzen, die in der traditionellen Heilkunst und im Schamanismus der dortigen Völker verwendet werden. Ich weiß, daß diese oft abenteuerliche Suche niemals zu Ende sein kann, aber sie wird immer spannender und erkenntnisreicher. Mein Hauptinteressengebiet sind die Zauberpflanzen verbunden mit ihrem rituellen Nutzen. Wohl die meisten Zauberpflanzen sind in irgendeiner Form psychoaktiv. Sie bewegen Geist und Gemüt, schenken Visionen und körperliche Sensationen. Sie sind oft pharmakologisch hoch aktiv, und können – falsch angewendet – ziemlichen Schaden stiften. Zauberpflanzen sind wie Messer. Sie tun an sich nichts; allerdings kann man damit jemanden erstechen oder sich eine Stulle schmieren.
Zauberpflanzen sind nur dann nützlich, wenn man sie zum richtigen Zeitpunkt, am richtigen Ort unter den erforderlichen Bedingungen benutzt. Deshalb gibt es in traditionellen Ethnien Schamanen, Zauberer und Kräuterkundige, die das Wissen um die Zauberpflanzen bewahren und nutzen. Oft ist der Gebrauch einer derart stark wirksamen Pflanze ganz alleine den Schamanen und Schamaninnen vorbehalten. Allerdings kann man auch unter ihrem Schutz Bekanntschaft mit den phantastischen Wirkungen der heiligen Zauber- und Schamanenpflanzen machen. Oft schützen die Schamanen ihr Wissen, indem sie ihre Zauberpflanze öffentlich als Giftpflanze verrufen. Aus diesem Grund ist sicherlich schon viel traditionelles oder geheimes Wissen verlorengegangen. Immer dann, wenn ein Volk ausgerottet oder missioniert und dominiert wurde.
Praktisch jede Kultur kennt oder kannte einmal Wirkungen und Nutzen psychoaktiver Gewächse. Meist werden sie als »Pflanzen der Götter« verehrt, wie der Ethnobotaniker Richard Schultes und der LSD-Entdecker Albert Hofmann in ihrem gleichnamigen Buch auf eindrucksvolle Weise gezeigt haben. Dieses Werk war ein Meilenstein in meiner Ausbildung zum Ethnopharmakologen. Das Buch hat mich sehr berührt, weil es zeigt, wie andere Völker und alte Kulturen mit der Natur umgegangen sind, welche tiefe Kenntnis sie über die Wirkungen und rechten Anwendungen visionär wirkender Pflanzen haben oder hatten. Es wird auch deutlich, daß Schamanen keine abergläubischen Scharlatane sind, sondern raffinierte Naturwissenschaftler und Pharmakologen. Auf der ganzen Welt haben Schamanen Pflanzen verschiedener Gat tungen und Arten gefunden, die dieselben oder sehr ähnliche Wirkstoffe enthalten. So etwa verhält es sich bei den Nachtschattengewächsen (Solanaceae).
Diese Pflanzenfamilie umfaßt tausende von Arten, wovon ein Teil psychoaktive Wirkstoffe enthalten. Es gibt aber viele Nachtschattengewächse, die als Nahrung eine große kulturelle und ökonomische Bedeutung gewonnen haben. Dazu gehören vor allem die Kartoffeln, Tomaten, Auberginen, Chilipfeffer, Paprika, um nur die bekanntesten zu nennen. Die berühmtesten psychoaktiven Nachtschattengewächse sind Stechapfel (Datura), Engelstrompete (Brugmansia), Alraune (Mandragora), Bilsenkraut (Hyoscyamus), Tollkirsche (Atropa) und Tabak (Nicotiana). Die weniger bekannten sind das Krainer Tollkraut (Scopolia), der australische Pituri-Strauch (Duboisia), der südamerikanische Nachtjasmin (Cestrum), der chilenische Fabianastrauch (Fabiana oder Pichi-Pichi), der kolumbianische Campanila-Strauch (Iochroma), der mexikanische Goldkelch (Solandra) oder die amazonische Brunfelsie (Brunfelsia). Im Lexikonteil des Buches Pflanzen der Götter war auch ein äußerst ungewöhnliches und offensichtlich sehr seltenes, zudem kaum erforschtes Nachtschattengewächs angeführt: Latua pubiflora. Ein Strauch, der nur in sehr begrenzten Arealen von Süd-Chile vorkommt, und selbst dort selten ist. Das Bild war nach einem alten Herbarium-Exemplar gezeichnet worden und gibt kaum einen richtigen Eindruck der Pflanze wider.
Latua pubiflora heißt im Mapuche latúe, »die, die tötet«. Im regionalen Spanisch wird sie palo de los brujos, »Baum der Zauberer/Hexer« genannt und als tödlich wirksames Gewächs gefürchtet, geradezu vernichtet. Wenn ein Farmer eine Latua auf seinem Grundstück entdeckt, läßt er sie entfernen und verbrennen, ganz wie eine Hexe auf den Scheiterhaufen gebracht wird.
Seit Pflanzen der Götter erschienen war (erstmals 1980 in deutscher Sprache) habe ich davon geträumt, Latua pubiflora zu finden, zu verehren und genauer kennenzulernen.
Als ich am Manuskript meiner Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen gearbeitet habe und die entsprechenden Dias aus meinem Archiv zusammenstellte, wurde mir schmerzlich klar, daß ich kein Foto von der Latua hatte. Ich wollte eines haben, unbedingt. So schloß ich mich einer ethnobotanischen Expedition nach Chile und Nordwestargentinien an.
Währen wir einige Zeit in Santiago de Chile übrig hatten, nutzte ich die Gelegenheit und flog mit meinem Freund Rob Montgomery nach Valdivia. Rob ist ein brillianter Pflanzenkenner, Ethnobotaniker und Pharmazeut. Er hat den ersten ethnobotanischen Fachhandel (...off the jungle) gegründet und den Botanical Preservation Corps ins Leben gerufen. Der Versandhandel dient der Verbreitung seltener Schamanenpflanzen, der Friedenschor der Wissensvermittlung. Auch Rob wollte seit Jahren eine Latua in echt sehen, bzw. erleben.
Bei unserer Ankunft war Valdivia in düstere Nebelschleier gehüllt. Im Hotel markierten wir die aus Herbarien und botanischen Artikeln belegten Fundorte der Latua. Sie waren leider sehr vereinzelt und weit voneinander entfernt. Aber wir hatten ja eine Woche Zeit. Sie wurde zu einer der längsten und spannendsten Wochen meines Lebens.
Am nächsten Morgen besuchten wir den Jardín Botanico, den botanischen Garten von Valdivia. Dort wuchs alles, nur keine Latua. Als wir die Botaniker im Universitätsinstitut nach Latua pubiflora befragen, erhielten wir nur Schulterzucken als Antwort, trotz Empfehlungsschreiben von Carlos Aldunate, dem Direktor des Nationalmuseums. Der sehr freundliche und elegante Mann hat viele ethnobotanische Forschungen in seinem Land durchgeführt oder geleitet. Aber über Latua wußte auch er noch spärliches.
Unser einziger Anhaltspunkt blieb die Karte mit den Fundplätzen. Sie wurden allerdings vor langer Zeit, oft um 1900 herum oder in den Vierziger Jahren dokumentiert. Unser erstes Ziel war die Insel Chiloé. Sie wird manchmal auch das »südamerikanische Irland« genannt, weil es dort klimatisch sehr ähnlich ist. Es regnet praktisch immer, schneit dafür nie. Ein idealer Ort für Pflanzen und Pilze. Die Inselflora ist sehr artenreich und wird von den Mapuche-Indianern vielseitig genutzt.
In Ancud, dem Hauptort von Chiloé, angekommen fragten wir jeden Menschen nach dem Baum der Zauberer. Niemand wollte ihn gekannt haben. Selbst im örtlichen Büro der Forst-Behörde war die Pflanze unbekannt. Nach stundenlangen Fahrten und Krabbeleien im Gestrüpp und Schlamm hatten wir alle in den Herbarien bezeichneten Ort aufgesucht: vergeblich! – Keine Spur von dem raren Geschöpf. Eine sehr alte, wind- und wettergegerbte Mapuche-Frau erklärte uns in gebrochenem Spanisch, daß es die Pflanze überall gebe; wir sollten nur noch tiefer in den Busch eindringen. Noch mehr Frust! Ein Kräuterhändler auf dem Marktplatz riet uns, daß wir unsere Suche besser aufgeben sollen, die Pflanze sei sehr selten und kaum jemals gesichtet worden. Außerdem traut sich niemand zu sagen, daß er oder sie die Pflanze kenne und sogar wüßte wo sie wüchse. Denn mit ihr kann man töten, hexen, verzaubern. Wer solch Gewächs kennt steht sofort im Verdacht ein Schadenzauberer oder eine Hexe zu sein.
Eine geringe Hoffnung machte uns der extrem apathische Direktor von dem kleinen Volkskundemuseum in Ancud. Er berichtete völlig abwesend, daß er einmal Latua-Blätter geraucht und zusätzlich Latua-Tee getrunken hätte. Die Wirkung war verheerend. Er wurde in völlige Verwirrung gestürzt, tagelang im Delirium mit grauenhaften Visionen und dem Gefühl zu verbrennen. Man konnte dem Mann ansehen, was er durchgemacht hatte. Er ist ohne den Schutz eines erfahrenen Schamanen durch die Hölle gegangen. Er gab ein gutes Beispiel dafür ab, was man besser nicht tut. Die Pflanze ist wie ein kompliziertes Gerät oder wie eine selbstbewußte Wesenheit. Wenn man keinen Führerschein hat, klebt man nur allzuleicht am Baum.
Die Schamanenpflanze straft den ignoranten Geist. Auch den respektlosen. Die südamerikanischen Schamanen sehen in psychoaktiven Gewächsen sogenannte »Meister-Pflanzen«; denn sie sind Lehrer und Heiler zugleich. Sie schenken Wissen und Gesundheit, aber nur solange man die Grundregel des Gebrauches befolgt: das Wissen um die wirksame Dosis, das Erkennen des rechten Zeitpunktes und die Auswahl des Ortes. Wer diese Faktoren übersieht, wird mit einem heftigen »Zen-Schlag« mit der Zauberkraft der Pflanze konfrontiert.
Der gebrochene Museumsdirektor gab uns zumindest einen guten Tip. Wir sollen nach Osorno fahren und auf dem Mercado Ferias liebre de Ratue nach den dortigen Kräuterkrämern Ausschau halten. Sie würden Latua-Blätter für baños de reumatismo, medizinische Bäder für rheumatisch Leidende, verkaufen. Vielleicht könnten ja sie uns verraten, wo die Latua zu finden sei. Aber, welcher Händler verrät schon gerne seine Quellen?
Wir hatten bereits eine halbe Woche mit unserer Suche verbracht und wurden immer hoffnungsloser. So wollten wir am nächsten Morgen aufbrechen und die Insel Chiloé verlassen. Erstaunlicherweise schien die Sonne und tauchte die grüne üppige Natur in einen zärtlichen Goldschein. Es war der 6.6.1996 – deshalb glaubten die katholischen Chilenen, es sei wegen seiner Zahlensymbolik (666) der Tag des Antichrists. Alle Geschäfte blieben geschlossen, sogar die Kirchen wurden verriegelt, die Altäre verhängt und den Leuten geraten, nicht das Haus zu verlassen. Wohl kein guter Tag um nach einer dämonisierten Zauberpflanze zu forschen...
Auf dem Weg zur Fähre sahen wir eine Baumschule. Wir hielten und wollten dort ein letztes Mal nach Latua fragen, falls sich jemand blicken ließ. Ich sprang aus dem Auto und sah, wie ein älterer, dunkelbraungebrannter Mann mit einer freundlichen Geste auf mich zukam. Ich wollte nicht lange um den Brei herumreden, wir hatten ohnehin schon zuviel Zeit verloren. ¿Usted conoce la planta latúe o el árbol de los brujos? – »Kennen Sie die Latua, bzw. den Baum der Zauberer?« – ¡Como no! – »Selbstverständlich!« Er fügte noch fast wie beiläufig hinzu, daß die Pflanze Halluzinationen bewirken würde und deshalb von den Chiloensern gefürchtet werde.
Wir waren geplättet. Der erste Mensch, der eindeutig wußte wovon er redete. Wir fragten weiter, ob er uns vielleicht die Pflanze am Standort zeigen könne. Er bejate, schränkte aber ein, daß er sehr wichtige Umpflanzungen vorzunehmen hätte, und erst am späten Nachmittag, nach 5:00 Uhr Zeit hätte. Es war gerade 10:00 früh. Nach quälenden Stunden des Warten kehrten wir zur Baumschule zurück. Als wir näherkamen, ging uns der alte Mapuche entgegen. In Händen hielt er einen Zweig von dem Bäumchen, was er Latúe oder Latuy nennt. Groß war die Enttäuschung. Es war der Ast eines anderen Strauches. What a bummer, was für ein Reinfall - wie die Amerikaner sagen. Als Rob und ich aus dem Schock der Frustration erwachten, trauten wir unseren Augen nicht. Denn der Ast stammte eindeutig von Desfontainia spinosa, einer fast völlig unerforschten Schamanenpflanze, die im kolumbianischen Sibundoy-Tal zur Erzeugung von Visionen genutzt wird. Dieser Fund war eine kleinen ethnopharmakologische Sensation. Der erste ethnographische Beleg für den tatsächlichen Gebrauch im Schamanismus. Zudem in einem neuen Gebiet. Der Frust schlug in völlige Begeisterung um. Der Alte führte uns durch ein Moorgebiet hindurch zu dem Baum, dem Stammbaum unseres Ästchens. Er kannte jede Pflanze bei Namen in Mapuche und Spanisch, wußte alles über ihre Heilanwendungen und sonstigen Nützlichkeiten. Und das alles am Tag des Tieres.
Desfontainia, auf Spanisch auch muerdago genannt, war also eine bisher unbekannte Schamanenpflanze der Mapuche. Unser Informant nannte sie Latuy oder Latúe, gab ihr also dieselben Namen der Latua. Daraus kann man schließen, daß Latúe ein Überbegriff für psychoaktive Meisterpflanzen ist. Wieder eine neue Erkenntnis.
Unser Informant erzählte uns noch voller Bedauern, daß das am stärksten wirksame Pflanzenteil die Früchte seien, im Moment aber nicht die Saison dafür sei. Wir sammelten von der Desfontainia reichlich Material; geeignete Pflanzenteile zum Pressen und Deponieren in verschiedenen Herbarien; sowie reichlich Blätter für folgende bioessays, menschliche Selbstversuche.
Es wurde bald dunkel und wir mußten uns beeilen, um die letzte Fähre zu erwischen. Wir mußten dringend nach Osorno. Die attraktive Dame an der Rezeption eines etwas abgeschretterten Hotels war völlig aus dem Häuschen, Gäste aus Canada und Deutschland zu bekommen. Sie fragte, was uns in diese Gegend verschlagen hätte. Wir murmelten nur noch palo de los brujos und fielen erschöpft ins Bett. Als es hell wurde fuhren wir bereits zum Marktplatz. Es war Freitag und der letzte Tag der unserer Woche. Abends um sechs ging unser Flugzeug von Valdivia nach Santiago. Wir konnte nicht verlängern, weil wir Sonnabend mit der Expedition in die Atacama-Wüste aufbrechen mußten. Uns blieben also nur noch wenige wertvolle Stunden für unsere Suche übrig.
Die meisten Kräuterhändler auf dem Markt kannten zwar den Namen Latúe, wußten aber angeblich nichts über die Pflanze. Lediglich eine uralte, verschrumpelte Kräuterfrau erzählte uns, daß sie aus Latúe-Blättern und anderen Zutaten einen Licor (»Likör«) zur äußerlichen Anwendung bereiten würde, gerade aber keine einzige Flasche dabei hätte. Der Licor wird bei Rheuma, Arthritis, Husten und allen Schmerzen auf die Haut aufgetragen und einmassiert. Soll sehr gut helfen, fügte sie hinzu. Nach der Heimat der Pflanze befragt zeigte sie mit dem Kinn in Richtung Küste. Da irgendwo liegen die Berge, wo Latua vorkommt.
Wir rasten sofort die Straße zum Meer hinunter; natürlich viel zu schnell. Rob trat plötzlich in die Bremsen. Er hatte aus dem Augenwinkel ein vielversprechendes Schild am Straßenrand gesehen. Tatsächlich! dort stand eine riesige Tafel auf der zu lesen war, daß am Ende des Holperweges ein Institut zur Aufzucht und Pflege medizinisch wertvoller Pflanzen gelegen sei. Rob dreschte mit unserem Mietwagen durch Schlaglöcher, Pfützen und Schlammlaken.
Nach einer Fahrt, die eigentlich nur einem Jeep zugetraut werden darf, gelangten wir zu einer Art Gärtnerei. Als wir stoppten, kam uns ein Mann entgegen und fragte nach unserem Begehren. Latua. Sonst nichts. Er zuckte die Schultern, erklärte stolz, daß sie letzte Woche den letzten Latua-Strauch vom Grundstück entfernt hätten. Damit die Heilpflanzen nicht vergiftet werden würden. Er nahm unsere Bestürzung wahr und empfahl uns, nach San Juan de la Costa, auch Misión la Costa genannt, zu fahren und den dortigen Padre zu fragen. Er könne uns ganz bestimmt weiterhelfen; zudem würden alle Leute jener Gegend, traditionelles Mapuche-Areal, die »gefährliche Giftpflanze« kennen.
Uns behagte gar nicht der Gedanke, einen christlichen Pater nach einer heidnischen Schamanenpflanze zu fragen. Dennoch rasten wir dem Ort entgegen. Unterwegs sammelten wir jeden trampenden Mapuche ein. Jeder kannte hier Latúe; jeder wußte, daß es die wichtigste Zauberpflanze der Machi, so heißt der Schamane (meist eine Frau) auf Mapuche, ist.
Endlich gab es eine Spur. San Juan de la Costa war auch auf einem alten Herbarium-Eintrag als Fundort vermerkt. Als wir in dem kleinen Dorf ankamen parkten wir den Wagen direkt zwischen der Kirche und dem Hospital. Da uns die Mapuche-Tramper von grausigen Vergiftungen erzählten, stapften wir in das Hospital. Die erstaunlich junge Oberschwester schickte uns ebenfalls zum Dorfprediger. Als wir an seine Tür klopften, sprang sie sofort auf, so als wenn Padre Agrien auf uns gewartet hätte. Wir schilderten unser Anliegen. Er sagte nur kommt mit, und führte uns in den Kirchgarten. Dort arbeiteten mehrere Gärtner, die begeistert mitteilten, daß sie alle Latua-Sträuche entfernt hätten. Wir waren am Ende. Uns blieben nur noch zwei Stunden für die Suche. Wir fühlten uns wie Parsifal und die Gralsritter. Gebeugten Schrittes schlurften wir zu unserem völlig verdreckten Mietwagen. Da kam die Wende.
Uns humpelte ein alter Mann entgegen. Er war nur in Stoffetzen gehüllt und sah aus, als wenn er sich noch nie gewaschen hätte. Besonders eindrucksvoll war sein zerfurchtes Gesicht und die dicken struppigen Augenbrauen. Padre Agrien rief ihn herbei und sagte zu ihm, daß er doch wohl Latúe kennen müsse und den neugierigen und rastlosen Fremden helfen könne. Er lachte auf, schlug sich auf die Schenkel und rief, wenn nicht er, wer solle denn dann die Latúe kennen. Er kam zu uns gehumpelt und berichtete, wie er täglich ein Dekokt aus den Blätter, Früchten, Blüten und Ästchen äußerlich an seinen rheumatischen Gelenken anwende. Die Blätter seien auch wirkungsvoll wenn sie in Öl eingelegt und auf die Haut massiert würden. Wir konnten es kaum glauben, aber wir hatten unseren Mann gefunden; er heißt bezeichnenderweise Santo Uribe Piñao. Wir luden ihn in unser Auto, boten ihm einen Tageslohn an und fuhren zu seinem Haus. Er wollte uns zuerst sein Material zeigen, damit wir sicher sein könnten, daß es die Pflanze unserer Träume sei.
Auf Santo Uribes Grundstück stand neben einem eingezäunten Gärtchen eine Art vergrößerte Hundehütte. Eigentlich bestand sein Haus nur aus ein paar zusammengenagelten Planken aus grobem Holz. Wir folgten ihm und kamen an einer Blutroten Engelstrompete (Brugmansia sanguinea) vorbei. Ich erzählte Santo Uribe, daß ich ihre extrem stark halluzinogene Wirkung gut kenne. Er lachte und versicherte mir, er kenne sie auch. Er fügte noch hinzu, daß die Samen der von ihm pe recillo genannten Art zum Schabernacktreiben brauchbar wären. Man che Mapuche machen sich einen Spaß daraus, anderen die zerstampften Samen in den Kaffee zu streuen und sie dann bei ihren blödsinnigen Reaktionen auf die halluzinogene Wirkung zu beobachten.
Unser Informant kroch in seine Hütte und kramte einen Plastikbeutel mit seiner Latua-Medizin hervor. Rob untersuchte den Inhalt und jubelte von Freude überwältig, »das ist sie!« – endlich.
Santo Uribe, der uns jetzt wirklich als Heiliger erschien, drängte uns ins Auto und gab die Richtung vor. Wir schaukelten die ausgefahrenen Wege entlang immer höhr in die Berge. Vor uns erschloß sich eine Landschaft, die an den Schwarzwald erinnert. Es war leider stark bewölkt und ein denkbar ungünstiges Licht zum Fotographieren.
Der Weg wurde zunehmend steiler und immer schlammiger. Rob hat viele Jahre im Dschungel verbracht und gelernt, wie man mit einem Vehikel durchkommt. Ich konnte es kaum glauben, wie sich unser kleines Stadtauto durch Schlamm und Pfützen kämpfte. Der Weg vor uns wurde aber so schlecht, daß Rob risigniert aufgab, den Wagen stehen ließ und den Motor ausschaltete. Ich wollte es einfach nicht glauben, daß alles umsonst gewesen war. Da klopfte uns Santo Uribe auf die Schultern und deutete mit seinem Kinn auf den Wegesrand. Plötzlich riß die Wolkendecke auf und ein Sonnenstrahl viel auf einen Strauch, an dessen Ästen glitzernde Rubine hingen. »¡Ese es la latúe!« – »Das ist die Latua!«
Wir stürzten aus dem Wagen und fielen vor der Pflanze auf die Knie. Rob holte etwas Tabak hervor, reichte den Beutel an mich weiter. Ich nahm etwas in die Hand und hielt den Tabaksbeutel zu Santo Uribe. Offensichtlich sehr erfreut und überrascht nahm auch er etwas. Wir streuten den Tabak an die Wurzel des prächtigen Strauches und bedankten uns bei ihrem Pflanzengeist und baten um Vergebung, das wir von ihr etwas Material ernten wollten. Jetzt wurde auch deutlich, daß unser neuer Freund der Schamane des Dorfes war.
Die Latua ist nicht nur wegen ihrer Inhaltsstoffe (vor allem die Tropanalkaloide Scopolamin und Atropin) eine Zauberpflanze. Ihr Anblick ist schon bezaubernd. Die glockenförmigen herabhängenden Blüten schmücken die Äste wie Juwelen; besonders in der tiefstehenden Sonne. Es war unfaßbar. In der allerletzten Minute unserer einwöchigen rastlosen Suche wurden wir vom Pflanzengeist begrüßt. Zudem lachte die Sonne und ließ das göttliche Gewächs in heiligem Glanz erstrahlen.
1997 Engelstrompeten: Brugmansia und Datura (2.Aufl.). Stuttgart: Ulmer.
RÄTSCH, Christian
1997 Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen. Aarau: AT Verlag.
SCHULTES, Richard & Albert HOFMANN
1995 Pflanzen der Götter. Aarau: AT Verlag.
Vor der Ernte muß der Pflanze ein Opfer (Brot, gekochtes Huhn, Wei zen grütze) dargebracht werden. Dann spricht man zum Pflanzengeist ein kurzes, aber sehr wichtiges Gebet: »Kleine Pflanze, komm zu mir, ich nehme etwas von dir, damit du mir Gesundheit gibst.«
Viele Schamanen behaupten, daß sie ihre Kräfte und Fähigkeiten durch die Einnahme von Latúe-Zuereitungen bei ihrer Initiation erhalten haben.
Latúe ist für die Mapuche-Schamanen das wichtigste Räucherwerk zur Vertreibung böser Geister, schlechter Stimmung, Sorgen und Trauer. Dazu wird das Kraut, immer mit anderen Substanzen vermischt (Fabiana und Cestrum), in das offene Feuer gestreut.
Die Pflanze wurde auch von schwarzen Schamanen (kalku) für nieder trächtige Zwecke (Verhexung, Todeszauber) gebraucht.
Latúe soll heftige Delirien und visuelle Halluzinationen erzeugen und bewirkt starke Mundtrockenheit, Vergößerung der Pupillen, Kopf schmerzen und Verwirrung. Die Wirkung soll bis zu drei Tage andauern; Nachwirkungen können (ähnlich wie bei Brugmansia) wochenlang anhalten. Selbst ein Blättertee erzeugt Halluzinationen und Krämpfe. Es heißt auch, daß Latua permanente »Schwachsinnigkeit» erzeugen kann. Den Schamanen macht die Pflanze anscheinend nichts aus; im Gegenteil sie hilft ihnen, um an verborgenen Informationen zu gelangen.
Quelle: Natürlich
Auf der Suche nach dem Baum der Zauberer
Seit Jahren durchstreife ich die Welt auf der Suche nach Pflanzen, die in der traditionellen Heilkunst und im Schamanismus der dortigen Völker verwendet werden. Ich weiß, daß diese oft abenteuerliche Suche niemals zu Ende sein kann, aber sie wird immer spannender und erkenntnisreicher. Mein Hauptinteressengebiet sind die Zauberpflanzen verbunden mit ihrem rituellen Nutzen. Wohl die meisten Zauberpflanzen sind in irgendeiner Form psychoaktiv. Sie bewegen Geist und Gemüt, schenken Visionen und körperliche Sensationen. Sie sind oft pharmakologisch hoch aktiv, und können – falsch angewendet – ziemlichen Schaden stiften. Zauberpflanzen sind wie Messer. Sie tun an sich nichts; allerdings kann man damit jemanden erstechen oder sich eine Stulle schmieren.
Zauberpflanzen sind nur dann nützlich, wenn man sie zum richtigen Zeitpunkt, am richtigen Ort unter den erforderlichen Bedingungen benutzt. Deshalb gibt es in traditionellen Ethnien Schamanen, Zauberer und Kräuterkundige, die das Wissen um die Zauberpflanzen bewahren und nutzen. Oft ist der Gebrauch einer derart stark wirksamen Pflanze ganz alleine den Schamanen und Schamaninnen vorbehalten. Allerdings kann man auch unter ihrem Schutz Bekanntschaft mit den phantastischen Wirkungen der heiligen Zauber- und Schamanenpflanzen machen. Oft schützen die Schamanen ihr Wissen, indem sie ihre Zauberpflanze öffentlich als Giftpflanze verrufen. Aus diesem Grund ist sicherlich schon viel traditionelles oder geheimes Wissen verlorengegangen. Immer dann, wenn ein Volk ausgerottet oder missioniert und dominiert wurde.
Praktisch jede Kultur kennt oder kannte einmal Wirkungen und Nutzen psychoaktiver Gewächse. Meist werden sie als »Pflanzen der Götter« verehrt, wie der Ethnobotaniker Richard Schultes und der LSD-Entdecker Albert Hofmann in ihrem gleichnamigen Buch auf eindrucksvolle Weise gezeigt haben. Dieses Werk war ein Meilenstein in meiner Ausbildung zum Ethnopharmakologen. Das Buch hat mich sehr berührt, weil es zeigt, wie andere Völker und alte Kulturen mit der Natur umgegangen sind, welche tiefe Kenntnis sie über die Wirkungen und rechten Anwendungen visionär wirkender Pflanzen haben oder hatten. Es wird auch deutlich, daß Schamanen keine abergläubischen Scharlatane sind, sondern raffinierte Naturwissenschaftler und Pharmakologen. Auf der ganzen Welt haben Schamanen Pflanzen verschiedener Gat tungen und Arten gefunden, die dieselben oder sehr ähnliche Wirkstoffe enthalten. So etwa verhält es sich bei den Nachtschattengewächsen (Solanaceae).
Diese Pflanzenfamilie umfaßt tausende von Arten, wovon ein Teil psychoaktive Wirkstoffe enthalten. Es gibt aber viele Nachtschattengewächse, die als Nahrung eine große kulturelle und ökonomische Bedeutung gewonnen haben. Dazu gehören vor allem die Kartoffeln, Tomaten, Auberginen, Chilipfeffer, Paprika, um nur die bekanntesten zu nennen. Die berühmtesten psychoaktiven Nachtschattengewächse sind Stechapfel (Datura), Engelstrompete (Brugmansia), Alraune (Mandragora), Bilsenkraut (Hyoscyamus), Tollkirsche (Atropa) und Tabak (Nicotiana). Die weniger bekannten sind das Krainer Tollkraut (Scopolia), der australische Pituri-Strauch (Duboisia), der südamerikanische Nachtjasmin (Cestrum), der chilenische Fabianastrauch (Fabiana oder Pichi-Pichi), der kolumbianische Campanila-Strauch (Iochroma), der mexikanische Goldkelch (Solandra) oder die amazonische Brunfelsie (Brunfelsia). Im Lexikonteil des Buches Pflanzen der Götter war auch ein äußerst ungewöhnliches und offensichtlich sehr seltenes, zudem kaum erforschtes Nachtschattengewächs angeführt: Latua pubiflora. Ein Strauch, der nur in sehr begrenzten Arealen von Süd-Chile vorkommt, und selbst dort selten ist. Das Bild war nach einem alten Herbarium-Exemplar gezeichnet worden und gibt kaum einen richtigen Eindruck der Pflanze wider.
Latua pubiflora heißt im Mapuche latúe, »die, die tötet«. Im regionalen Spanisch wird sie palo de los brujos, »Baum der Zauberer/Hexer« genannt und als tödlich wirksames Gewächs gefürchtet, geradezu vernichtet. Wenn ein Farmer eine Latua auf seinem Grundstück entdeckt, läßt er sie entfernen und verbrennen, ganz wie eine Hexe auf den Scheiterhaufen gebracht wird.
Seit Pflanzen der Götter erschienen war (erstmals 1980 in deutscher Sprache) habe ich davon geträumt, Latua pubiflora zu finden, zu verehren und genauer kennenzulernen.
Als ich am Manuskript meiner Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen gearbeitet habe und die entsprechenden Dias aus meinem Archiv zusammenstellte, wurde mir schmerzlich klar, daß ich kein Foto von der Latua hatte. Ich wollte eines haben, unbedingt. So schloß ich mich einer ethnobotanischen Expedition nach Chile und Nordwestargentinien an.
Währen wir einige Zeit in Santiago de Chile übrig hatten, nutzte ich die Gelegenheit und flog mit meinem Freund Rob Montgomery nach Valdivia. Rob ist ein brillianter Pflanzenkenner, Ethnobotaniker und Pharmazeut. Er hat den ersten ethnobotanischen Fachhandel (...off the jungle) gegründet und den Botanical Preservation Corps ins Leben gerufen. Der Versandhandel dient der Verbreitung seltener Schamanenpflanzen, der Friedenschor der Wissensvermittlung. Auch Rob wollte seit Jahren eine Latua in echt sehen, bzw. erleben.
Bei unserer Ankunft war Valdivia in düstere Nebelschleier gehüllt. Im Hotel markierten wir die aus Herbarien und botanischen Artikeln belegten Fundorte der Latua. Sie waren leider sehr vereinzelt und weit voneinander entfernt. Aber wir hatten ja eine Woche Zeit. Sie wurde zu einer der längsten und spannendsten Wochen meines Lebens.
Am nächsten Morgen besuchten wir den Jardín Botanico, den botanischen Garten von Valdivia. Dort wuchs alles, nur keine Latua. Als wir die Botaniker im Universitätsinstitut nach Latua pubiflora befragen, erhielten wir nur Schulterzucken als Antwort, trotz Empfehlungsschreiben von Carlos Aldunate, dem Direktor des Nationalmuseums. Der sehr freundliche und elegante Mann hat viele ethnobotanische Forschungen in seinem Land durchgeführt oder geleitet. Aber über Latua wußte auch er noch spärliches.
Unser einziger Anhaltspunkt blieb die Karte mit den Fundplätzen. Sie wurden allerdings vor langer Zeit, oft um 1900 herum oder in den Vierziger Jahren dokumentiert. Unser erstes Ziel war die Insel Chiloé. Sie wird manchmal auch das »südamerikanische Irland« genannt, weil es dort klimatisch sehr ähnlich ist. Es regnet praktisch immer, schneit dafür nie. Ein idealer Ort für Pflanzen und Pilze. Die Inselflora ist sehr artenreich und wird von den Mapuche-Indianern vielseitig genutzt.
In Ancud, dem Hauptort von Chiloé, angekommen fragten wir jeden Menschen nach dem Baum der Zauberer. Niemand wollte ihn gekannt haben. Selbst im örtlichen Büro der Forst-Behörde war die Pflanze unbekannt. Nach stundenlangen Fahrten und Krabbeleien im Gestrüpp und Schlamm hatten wir alle in den Herbarien bezeichneten Ort aufgesucht: vergeblich! – Keine Spur von dem raren Geschöpf. Eine sehr alte, wind- und wettergegerbte Mapuche-Frau erklärte uns in gebrochenem Spanisch, daß es die Pflanze überall gebe; wir sollten nur noch tiefer in den Busch eindringen. Noch mehr Frust! Ein Kräuterhändler auf dem Marktplatz riet uns, daß wir unsere Suche besser aufgeben sollen, die Pflanze sei sehr selten und kaum jemals gesichtet worden. Außerdem traut sich niemand zu sagen, daß er oder sie die Pflanze kenne und sogar wüßte wo sie wüchse. Denn mit ihr kann man töten, hexen, verzaubern. Wer solch Gewächs kennt steht sofort im Verdacht ein Schadenzauberer oder eine Hexe zu sein.
Eine geringe Hoffnung machte uns der extrem apathische Direktor von dem kleinen Volkskundemuseum in Ancud. Er berichtete völlig abwesend, daß er einmal Latua-Blätter geraucht und zusätzlich Latua-Tee getrunken hätte. Die Wirkung war verheerend. Er wurde in völlige Verwirrung gestürzt, tagelang im Delirium mit grauenhaften Visionen und dem Gefühl zu verbrennen. Man konnte dem Mann ansehen, was er durchgemacht hatte. Er ist ohne den Schutz eines erfahrenen Schamanen durch die Hölle gegangen. Er gab ein gutes Beispiel dafür ab, was man besser nicht tut. Die Pflanze ist wie ein kompliziertes Gerät oder wie eine selbstbewußte Wesenheit. Wenn man keinen Führerschein hat, klebt man nur allzuleicht am Baum.
Die Schamanenpflanze straft den ignoranten Geist. Auch den respektlosen. Die südamerikanischen Schamanen sehen in psychoaktiven Gewächsen sogenannte »Meister-Pflanzen«; denn sie sind Lehrer und Heiler zugleich. Sie schenken Wissen und Gesundheit, aber nur solange man die Grundregel des Gebrauches befolgt: das Wissen um die wirksame Dosis, das Erkennen des rechten Zeitpunktes und die Auswahl des Ortes. Wer diese Faktoren übersieht, wird mit einem heftigen »Zen-Schlag« mit der Zauberkraft der Pflanze konfrontiert.
Der gebrochene Museumsdirektor gab uns zumindest einen guten Tip. Wir sollen nach Osorno fahren und auf dem Mercado Ferias liebre de Ratue nach den dortigen Kräuterkrämern Ausschau halten. Sie würden Latua-Blätter für baños de reumatismo, medizinische Bäder für rheumatisch Leidende, verkaufen. Vielleicht könnten ja sie uns verraten, wo die Latua zu finden sei. Aber, welcher Händler verrät schon gerne seine Quellen?
Wir hatten bereits eine halbe Woche mit unserer Suche verbracht und wurden immer hoffnungsloser. So wollten wir am nächsten Morgen aufbrechen und die Insel Chiloé verlassen. Erstaunlicherweise schien die Sonne und tauchte die grüne üppige Natur in einen zärtlichen Goldschein. Es war der 6.6.1996 – deshalb glaubten die katholischen Chilenen, es sei wegen seiner Zahlensymbolik (666) der Tag des Antichrists. Alle Geschäfte blieben geschlossen, sogar die Kirchen wurden verriegelt, die Altäre verhängt und den Leuten geraten, nicht das Haus zu verlassen. Wohl kein guter Tag um nach einer dämonisierten Zauberpflanze zu forschen...
Auf dem Weg zur Fähre sahen wir eine Baumschule. Wir hielten und wollten dort ein letztes Mal nach Latua fragen, falls sich jemand blicken ließ. Ich sprang aus dem Auto und sah, wie ein älterer, dunkelbraungebrannter Mann mit einer freundlichen Geste auf mich zukam. Ich wollte nicht lange um den Brei herumreden, wir hatten ohnehin schon zuviel Zeit verloren. ¿Usted conoce la planta latúe o el árbol de los brujos? – »Kennen Sie die Latua, bzw. den Baum der Zauberer?« – ¡Como no! – »Selbstverständlich!« Er fügte noch fast wie beiläufig hinzu, daß die Pflanze Halluzinationen bewirken würde und deshalb von den Chiloensern gefürchtet werde.
Wir waren geplättet. Der erste Mensch, der eindeutig wußte wovon er redete. Wir fragten weiter, ob er uns vielleicht die Pflanze am Standort zeigen könne. Er bejate, schränkte aber ein, daß er sehr wichtige Umpflanzungen vorzunehmen hätte, und erst am späten Nachmittag, nach 5:00 Uhr Zeit hätte. Es war gerade 10:00 früh. Nach quälenden Stunden des Warten kehrten wir zur Baumschule zurück. Als wir näherkamen, ging uns der alte Mapuche entgegen. In Händen hielt er einen Zweig von dem Bäumchen, was er Latúe oder Latuy nennt. Groß war die Enttäuschung. Es war der Ast eines anderen Strauches. What a bummer, was für ein Reinfall - wie die Amerikaner sagen. Als Rob und ich aus dem Schock der Frustration erwachten, trauten wir unseren Augen nicht. Denn der Ast stammte eindeutig von Desfontainia spinosa, einer fast völlig unerforschten Schamanenpflanze, die im kolumbianischen Sibundoy-Tal zur Erzeugung von Visionen genutzt wird. Dieser Fund war eine kleinen ethnopharmakologische Sensation. Der erste ethnographische Beleg für den tatsächlichen Gebrauch im Schamanismus. Zudem in einem neuen Gebiet. Der Frust schlug in völlige Begeisterung um. Der Alte führte uns durch ein Moorgebiet hindurch zu dem Baum, dem Stammbaum unseres Ästchens. Er kannte jede Pflanze bei Namen in Mapuche und Spanisch, wußte alles über ihre Heilanwendungen und sonstigen Nützlichkeiten. Und das alles am Tag des Tieres.
Desfontainia, auf Spanisch auch muerdago genannt, war also eine bisher unbekannte Schamanenpflanze der Mapuche. Unser Informant nannte sie Latuy oder Latúe, gab ihr also dieselben Namen der Latua. Daraus kann man schließen, daß Latúe ein Überbegriff für psychoaktive Meisterpflanzen ist. Wieder eine neue Erkenntnis.
Unser Informant erzählte uns noch voller Bedauern, daß das am stärksten wirksame Pflanzenteil die Früchte seien, im Moment aber nicht die Saison dafür sei. Wir sammelten von der Desfontainia reichlich Material; geeignete Pflanzenteile zum Pressen und Deponieren in verschiedenen Herbarien; sowie reichlich Blätter für folgende bioessays, menschliche Selbstversuche.
Es wurde bald dunkel und wir mußten uns beeilen, um die letzte Fähre zu erwischen. Wir mußten dringend nach Osorno. Die attraktive Dame an der Rezeption eines etwas abgeschretterten Hotels war völlig aus dem Häuschen, Gäste aus Canada und Deutschland zu bekommen. Sie fragte, was uns in diese Gegend verschlagen hätte. Wir murmelten nur noch palo de los brujos und fielen erschöpft ins Bett. Als es hell wurde fuhren wir bereits zum Marktplatz. Es war Freitag und der letzte Tag der unserer Woche. Abends um sechs ging unser Flugzeug von Valdivia nach Santiago. Wir konnte nicht verlängern, weil wir Sonnabend mit der Expedition in die Atacama-Wüste aufbrechen mußten. Uns blieben also nur noch wenige wertvolle Stunden für unsere Suche übrig.
Die meisten Kräuterhändler auf dem Markt kannten zwar den Namen Latúe, wußten aber angeblich nichts über die Pflanze. Lediglich eine uralte, verschrumpelte Kräuterfrau erzählte uns, daß sie aus Latúe-Blättern und anderen Zutaten einen Licor (»Likör«) zur äußerlichen Anwendung bereiten würde, gerade aber keine einzige Flasche dabei hätte. Der Licor wird bei Rheuma, Arthritis, Husten und allen Schmerzen auf die Haut aufgetragen und einmassiert. Soll sehr gut helfen, fügte sie hinzu. Nach der Heimat der Pflanze befragt zeigte sie mit dem Kinn in Richtung Küste. Da irgendwo liegen die Berge, wo Latua vorkommt.
Wir rasten sofort die Straße zum Meer hinunter; natürlich viel zu schnell. Rob trat plötzlich in die Bremsen. Er hatte aus dem Augenwinkel ein vielversprechendes Schild am Straßenrand gesehen. Tatsächlich! dort stand eine riesige Tafel auf der zu lesen war, daß am Ende des Holperweges ein Institut zur Aufzucht und Pflege medizinisch wertvoller Pflanzen gelegen sei. Rob dreschte mit unserem Mietwagen durch Schlaglöcher, Pfützen und Schlammlaken.
Nach einer Fahrt, die eigentlich nur einem Jeep zugetraut werden darf, gelangten wir zu einer Art Gärtnerei. Als wir stoppten, kam uns ein Mann entgegen und fragte nach unserem Begehren. Latua. Sonst nichts. Er zuckte die Schultern, erklärte stolz, daß sie letzte Woche den letzten Latua-Strauch vom Grundstück entfernt hätten. Damit die Heilpflanzen nicht vergiftet werden würden. Er nahm unsere Bestürzung wahr und empfahl uns, nach San Juan de la Costa, auch Misión la Costa genannt, zu fahren und den dortigen Padre zu fragen. Er könne uns ganz bestimmt weiterhelfen; zudem würden alle Leute jener Gegend, traditionelles Mapuche-Areal, die »gefährliche Giftpflanze« kennen.
Uns behagte gar nicht der Gedanke, einen christlichen Pater nach einer heidnischen Schamanenpflanze zu fragen. Dennoch rasten wir dem Ort entgegen. Unterwegs sammelten wir jeden trampenden Mapuche ein. Jeder kannte hier Latúe; jeder wußte, daß es die wichtigste Zauberpflanze der Machi, so heißt der Schamane (meist eine Frau) auf Mapuche, ist.
Endlich gab es eine Spur. San Juan de la Costa war auch auf einem alten Herbarium-Eintrag als Fundort vermerkt. Als wir in dem kleinen Dorf ankamen parkten wir den Wagen direkt zwischen der Kirche und dem Hospital. Da uns die Mapuche-Tramper von grausigen Vergiftungen erzählten, stapften wir in das Hospital. Die erstaunlich junge Oberschwester schickte uns ebenfalls zum Dorfprediger. Als wir an seine Tür klopften, sprang sie sofort auf, so als wenn Padre Agrien auf uns gewartet hätte. Wir schilderten unser Anliegen. Er sagte nur kommt mit, und führte uns in den Kirchgarten. Dort arbeiteten mehrere Gärtner, die begeistert mitteilten, daß sie alle Latua-Sträuche entfernt hätten. Wir waren am Ende. Uns blieben nur noch zwei Stunden für die Suche. Wir fühlten uns wie Parsifal und die Gralsritter. Gebeugten Schrittes schlurften wir zu unserem völlig verdreckten Mietwagen. Da kam die Wende.
Uns humpelte ein alter Mann entgegen. Er war nur in Stoffetzen gehüllt und sah aus, als wenn er sich noch nie gewaschen hätte. Besonders eindrucksvoll war sein zerfurchtes Gesicht und die dicken struppigen Augenbrauen. Padre Agrien rief ihn herbei und sagte zu ihm, daß er doch wohl Latúe kennen müsse und den neugierigen und rastlosen Fremden helfen könne. Er lachte auf, schlug sich auf die Schenkel und rief, wenn nicht er, wer solle denn dann die Latúe kennen. Er kam zu uns gehumpelt und berichtete, wie er täglich ein Dekokt aus den Blätter, Früchten, Blüten und Ästchen äußerlich an seinen rheumatischen Gelenken anwende. Die Blätter seien auch wirkungsvoll wenn sie in Öl eingelegt und auf die Haut massiert würden. Wir konnten es kaum glauben, aber wir hatten unseren Mann gefunden; er heißt bezeichnenderweise Santo Uribe Piñao. Wir luden ihn in unser Auto, boten ihm einen Tageslohn an und fuhren zu seinem Haus. Er wollte uns zuerst sein Material zeigen, damit wir sicher sein könnten, daß es die Pflanze unserer Träume sei.
Auf Santo Uribes Grundstück stand neben einem eingezäunten Gärtchen eine Art vergrößerte Hundehütte. Eigentlich bestand sein Haus nur aus ein paar zusammengenagelten Planken aus grobem Holz. Wir folgten ihm und kamen an einer Blutroten Engelstrompete (Brugmansia sanguinea) vorbei. Ich erzählte Santo Uribe, daß ich ihre extrem stark halluzinogene Wirkung gut kenne. Er lachte und versicherte mir, er kenne sie auch. Er fügte noch hinzu, daß die Samen der von ihm pe recillo genannten Art zum Schabernacktreiben brauchbar wären. Man che Mapuche machen sich einen Spaß daraus, anderen die zerstampften Samen in den Kaffee zu streuen und sie dann bei ihren blödsinnigen Reaktionen auf die halluzinogene Wirkung zu beobachten.
Unser Informant kroch in seine Hütte und kramte einen Plastikbeutel mit seiner Latua-Medizin hervor. Rob untersuchte den Inhalt und jubelte von Freude überwältig, »das ist sie!« – endlich.
Santo Uribe, der uns jetzt wirklich als Heiliger erschien, drängte uns ins Auto und gab die Richtung vor. Wir schaukelten die ausgefahrenen Wege entlang immer höhr in die Berge. Vor uns erschloß sich eine Landschaft, die an den Schwarzwald erinnert. Es war leider stark bewölkt und ein denkbar ungünstiges Licht zum Fotographieren.
Der Weg wurde zunehmend steiler und immer schlammiger. Rob hat viele Jahre im Dschungel verbracht und gelernt, wie man mit einem Vehikel durchkommt. Ich konnte es kaum glauben, wie sich unser kleines Stadtauto durch Schlamm und Pfützen kämpfte. Der Weg vor uns wurde aber so schlecht, daß Rob risigniert aufgab, den Wagen stehen ließ und den Motor ausschaltete. Ich wollte es einfach nicht glauben, daß alles umsonst gewesen war. Da klopfte uns Santo Uribe auf die Schultern und deutete mit seinem Kinn auf den Wegesrand. Plötzlich riß die Wolkendecke auf und ein Sonnenstrahl viel auf einen Strauch, an dessen Ästen glitzernde Rubine hingen. »¡Ese es la latúe!« – »Das ist die Latua!«
Wir stürzten aus dem Wagen und fielen vor der Pflanze auf die Knie. Rob holte etwas Tabak hervor, reichte den Beutel an mich weiter. Ich nahm etwas in die Hand und hielt den Tabaksbeutel zu Santo Uribe. Offensichtlich sehr erfreut und überrascht nahm auch er etwas. Wir streuten den Tabak an die Wurzel des prächtigen Strauches und bedankten uns bei ihrem Pflanzengeist und baten um Vergebung, das wir von ihr etwas Material ernten wollten. Jetzt wurde auch deutlich, daß unser neuer Freund der Schamane des Dorfes war.
Die Latua ist nicht nur wegen ihrer Inhaltsstoffe (vor allem die Tropanalkaloide Scopolamin und Atropin) eine Zauberpflanze. Ihr Anblick ist schon bezaubernd. Die glockenförmigen herabhängenden Blüten schmücken die Äste wie Juwelen; besonders in der tiefstehenden Sonne. Es war unfaßbar. In der allerletzten Minute unserer einwöchigen rastlosen Suche wurden wir vom Pflanzengeist begrüßt. Zudem lachte die Sonne und ließ das göttliche Gewächs in heiligem Glanz erstrahlen.
Literatur
PREISSEL, Ulrike und Hans-Georg1997 Engelstrompeten: Brugmansia und Datura (2.Aufl.). Stuttgart: Ulmer.
RÄTSCH, Christian
1997 Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen. Aarau: AT Verlag.
SCHULTES, Richard & Albert HOFMANN
1995 Pflanzen der Götter. Aarau: AT Verlag.
Schamanische Verwendung der Latua
Früher wurde die Latua pubiflora häufig von den Schamanen (machi) der Mapuche in der Gegend von Valdívia benutzt. Die meisten Schamanen der Mapuche sind weiblich, nur einige wenige Männer haben dieses Amt. Bei einer Gruppe der Mapuche, den Huilliche, wird die Pflanze noch heute als Schamanenbaum verehrt, denn er bringt Kraft, Wissen und Erkenntnis, bietet magischen Schutz und kann heilen.Vor der Ernte muß der Pflanze ein Opfer (Brot, gekochtes Huhn, Wei zen grütze) dargebracht werden. Dann spricht man zum Pflanzengeist ein kurzes, aber sehr wichtiges Gebet: »Kleine Pflanze, komm zu mir, ich nehme etwas von dir, damit du mir Gesundheit gibst.«
Viele Schamanen behaupten, daß sie ihre Kräfte und Fähigkeiten durch die Einnahme von Latúe-Zuereitungen bei ihrer Initiation erhalten haben.
Latúe ist für die Mapuche-Schamanen das wichtigste Räucherwerk zur Vertreibung böser Geister, schlechter Stimmung, Sorgen und Trauer. Dazu wird das Kraut, immer mit anderen Substanzen vermischt (Fabiana und Cestrum), in das offene Feuer gestreut.
Die Pflanze wurde auch von schwarzen Schamanen (kalku) für nieder trächtige Zwecke (Verhexung, Todeszauber) gebraucht.
Latúe soll heftige Delirien und visuelle Halluzinationen erzeugen und bewirkt starke Mundtrockenheit, Vergößerung der Pupillen, Kopf schmerzen und Verwirrung. Die Wirkung soll bis zu drei Tage andauern; Nachwirkungen können (ähnlich wie bei Brugmansia) wochenlang anhalten. Selbst ein Blättertee erzeugt Halluzinationen und Krämpfe. Es heißt auch, daß Latua permanente »Schwachsinnigkeit» erzeugen kann. Den Schamanen macht die Pflanze anscheinend nichts aus; im Gegenteil sie hilft ihnen, um an verborgenen Informationen zu gelangen.
Quelle: Natürlich